Dienstag, 17. April 2012

Die Kraft der Melancholie ist ungebrochen

[Voici un article du journal "Eßlinger Zeitung" sur le concert magnifique de Juliette Gréco à Stuttgart, samedi dernier.]

Magie einer Legende: Juliette Gréco im Theaterhaus. Foto: J. Becker

Von Dietholf Zerweck

Eine Legende. [...] Juliette Grécos Ehrentitel sind viele, doch die Faszination dieser Künstlerin ereignet sich auf der Bühne. Es sei die Liebesgeschichte mit ihrem Publikum, hat sie vor Jahren einmal gesagt, die sie am Leben hält. Eine zwar distanziertere, doch kaum weniger intensive als die mit ihren Freunden, Liebhabern, Lebensgefährten. Der Moment, bevor sie die Bühne betritt, wenn die Lichter verlöschen, das Reden verstummt - das sei wie Magie, ein Augenblick der Verwandlung, das Knistern einer elektrisierenden Spannung in den Adern.

Unglaubliche 85 Jahre ist Juliette Gréco im Februar alt geworden. Das Theaterhaus hat ihr jetzt ein Geburtstagskonzert ausgerichtet, vor vollem Haus im großen Saal selbstverständlich. Das Stuttgarter Publikum liebt die Französin, seit sie im April 1993 zum ersten Mal im damals noch Wangener Theaterhaus aufgetreten ist. Zum sechsten Mal ist sie nun hier, mit ihrem Pianisten, Komponisten, Arrangeur Gérard Jouannest, der seit bald einem Vierteljahrhundert auch ihr Ehepartner ist, und mit dem wunderbar einfühlsamen Jean-Louis Matinier am Akkordeon.

Beim Präludieren stimmen die beiden die Zuhörer ein auf den Grundton dieses unvergleichlichen Abends, den Grundton der Melancholie. Viele Chansons kennen diesen Ton, gemischt aus Lust und Schmerz, Begehren und dem Bewusstsein der Vergänglichkeit, Leidenschaft, Enttäuschung, Verzweiflung und dem Aufgebehren gegen das Unvermeidliche. Auch jene Titel von Jacques Brel, denen Juliette Gréco in ihren Programmen großen Raum gibt. Jouannest hat Brel zum ersten Mal vor mehr als einem halben Jahrhundert begleitet, mit Gréco seit 1968 ihre Chansons gestaltet. Da war die Muse der Existenzialisten [...] schon als der Gegenentwurf zur populäreren Edith Piaf etabliert.

Und nun kommt sie auf die - außer Jouannest am Flügel und Matinier dahinter auf seinem Podest - völlig leere Bühne, in ihrer von früheren Konzerten vertrauten schwarzen, bodenlangen Samtrobe. In den ersten Liedern wie „Vivre dans l’avenir“ oder „Un petit poisson“ agiert sie noch mehr als Diseuse denn als Chansonnière, zwischen ihren markanten Gesten mit flüchtigen Fingern durchs Haar streifend, die Hände zärtlich das Mikrofon umfassend, das für die nächsten 20 Chansons unverrückbar in der Mitte an der Rampe steht, wie Juliette Gréco stolz, aufrecht, unbeugsam dahinter. Scheinbar alterslos bringt sie jedes ihrer Lieder intensiv zum Leuchten, funkelnde Juwelen eines zwanzigfach größeren Repertoires, wobei die Auswahl in den letzten Jahren kaum variiert. Von den Lichtsäulen und -diagonalen der leeren Bühne stimmungsvoll umrahmt, singt sie Serge Gainsbourgs „Accordeon“, schmiegt sich ein in die Musette von „Les amants d‘un jour“, erzählt vom Schicksal der Deportationen in „C‘était un train de nuit“. Wie eine antike Tragödin breitet sie hier die Arme aus, dramatisch im Pathos, jedoch ohne jede Sentimentalität; danach - „après la guerre“ - mit flatternden Händen wie Schmetterlinge, die Überlebensfreude, die Erinnerung der Liebenden, Auge in Auge, in „C‘était bien“.

Lyrischer Bogen der Emotionen

Es sind alles Klassiker ihres Genres, vollendet artikuliert im Zusammenspiel von Mimik und Gestik, jedes ein Minidrama oder ein lyrischer Bogen der Emotionen, viele davon in der Zusammenarbeit von Jacques Brel und Gérard Jouannest entstanden, wie das großartige „J’arrive“ oder das grandios heftige „Ne me quitte pas“, mit dem Juliette Gréco einen überwältigenden Schlusspunkt setzt. Im kalkweißen Licht beschwört sie zum vielhundertsten Mal den Weg von Chrysantheme zu Chrysantheme, von einer abgelebten Leidenschaft zur nächsten in die Einsamkeit - bis zum Ankommen, bis zum Tod. Und danach, gegen die vergeudete Zeit, gegen das Vergessen, das Bild vom Vulkan, der immer noch Feuer sprüht, obwohl man glaubte, er sei zu alt dafür. Eine sinnfällige Metapher auch für dieses Konzert, für diese faszinierende Künstlerin. „Je suis comme je suis“: wirklich, unvergleichlich, Juliette Gréco.

16.04.2012 © Eßlinger Zeitung

1 Kommentar:

Das rote Pferd hat gesagt…

Guter Artikel! Aber Dein Blog ist in letzter Zeit eindeutig zu Juliette-lastig für meinen Geschmack.