... ist das Ziel des Buches von Manfred Lütz: Eine heitere Seelenkunde. Irre! Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen, Gütersloh 142010.
Ich habe kürzlich jenes Buch gelesen und fand es ziemlich informativ, unkonventionell und erfrischend. Daher hier eine kleine 'Renzension' meinerseits.
Zur Illustration seiner im Titel anklingenden These stellt der Autor zunächst den 'ganz normalen Wahnsinn und Blödsinn' (Inquisition, Mitläufertum, Diktatur, manche TV-Sendungen) bzw. 'wahnsinnig Normale' (Hitler, Esoteriker, Dieter Bohlen, Paris Hilton) vor, um daraus den Schluss zu ziehen, dass im Gegensatz dazu "mancher Schizophrene im akuten Schub ein Hort reinster Rationalität" sei. (19)
Die Normalen würden die anderen nicht mögen und alles Bunte, Schrille, Laute hassen. (7)
"Von einem […] farbenfrohen Himmel scheinen wir heute
allerdings […] weiter entfernt als je zuvor. All die ordentlichen Normalen
haben uns gezähmt und das Leben uniformiert. […] Exotisches gibt es eigentlich
nur noch im Museum. Und alles Irritierende soll irgendwie ‚psychologisch’
wegerklärt oder am besten psychiatrisch weggesperrt werden." (179)
"Oft freilich sind die Schleier in einer normierten
Gesellschaft so dicht, dass man keine Farben mehr erkennen kann. Dann sind es
nur noch die außergewöhnlichen Menschen, die uns an das erinnern, was
eigentlich hinter all den Menschen wirklich steckt. Nicht ‚krank’ ist also der Gegensatz
von ‚normal’, sondern vielmehr ‚außergewöhnlich’. Und von den Außergewöhnlichen
sind einige behandelbar krank und andere dauerhaft hilfsbedürftig behindert,
die übrigen Außengewöhnlichen aber sind die farbigen Grenzgänger unserer
Gesellschaften." (180)
Abgesehen von dieser teils bissigen Gesellschaftskritik stellt der Psychiater, Psychotherapeut und Theologe in seiner heiteren Seelenkunde alle Diagnosen und alle Therapien vor. Folgende Aussagen sind mir besonders aufgefallen:
Generell:
Diagnosen seien Worte und keine Wahrheiten. (vgl. 37f.)
"Ob jemand als krank oder gesund gilt, das hat viel mit
gesellschaftlichen Konventionen zu tun." (34)
Unterschiedliche Perspektiven (biologische, lebensgeschichtliche,
soziologische) und Therapien (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, systemischer und
lösungsorientierter Ansatz) seien nicht
entweder wahr oder falsch, sondern je nach Fall mehr oder weniger nützlich. (vgl. Kap. B III)
Zum Thema Wahn:
"Die Unfähigkeit die Perspektive zu wechseln, wird
psychiatrisch als Wahn definiert. […] Ideologien haben oft auch etwas
Wahnähnliches."
Zum Thema Sucht:
"Sucht ist Unfreiheit."(49)
"Wer sich angewöhnt hat, den Blick auf die Fähigkeiten der
Patienten zu richten, der entdeckt gerade bei Süchtigen reiche Schätze." (118)
"So ist die Sucht der Preis für das utopische und doch mit
allen Kräften von den Normalen betriebene Projekt der Machbarkeit des Glücks. Dieses
zum Scheitern verurteilte Projekt von nie enden, so lange es Menschen gibt."(123f.)
1 Kommentar:
und auf franzosisch???
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